Bisexualitäten – Ein Text von 2002

Vorbemerkung: Den unten stehenden Text hatte ich im Juli 2002 an die Mailingliste des damaligen Münchner Bi-Stammtischs geschrieben. Ich finde ihn weiterhin interessant – einerseits, weil er zeigt, wie binär das Denken in der Fachliteratur des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Bezug auf Geschlecht noch war. Andererseits, weil er ein Licht darauf wirft, dass das Kultivieren der eigenen Identität zur Durchsetzung politischer Ziele das große Risiko in sich birgt, Identität zum Selbstzweck werden zu lassen – und damit andere auszugrenzen. Auch wir Bi’s sind davor nicht gefeit und sollten uns in immer wieder mal hinterfragen, wo wir an der Stelle grade stehen.

Inhalt und Rechtschreibung stammen von damals; die Formatierung wurde leicht angepasst, offensichtliche Tippfehler korrigiert. Die Namen der genannten Personen habe ich jeweils auf den ersten Buchstaben des Vornamens gekürzt.


Beim heutigen stöbern in Max & Milians(*) bisexueller Bücherecke fiel mir ein Buch mit dem Titel “Bisexualitäten” in die Hände, an dem mich zuerst der Preis und dann der Autor Erwin J. Haeberle abschreckte. Beides lies mich eine eher staubtrockene wissenschaftliche Arbeit vermuten. Ein kurzes Blättern und “anlesen” einiger Seiten hatten trotzdem mein Interesse an dem schon acht Jahre alten Buch geweckt. Der heutige verregnete Lesenachmittag verleitet mich sogar dazu zu behaupten, daß alleine schon die 40-seitige Einführung von Haeberle die 98 DM für das Buch wert sind. 

Schon die Unterüberschriften des ersten Abschnittes “Der historische Hintergrund: Vom Verhalten zum Wesen – zweimal hin und zurück” sind ein Genuß:

  • Die Erfindung des Homosexuellen im 19. Jahrhundert
  • Die Abschaffung des Homosexuellen durch Kinsey
  • Die Wiedergeburt des Homosexuellen in der modernen Schwulenbewegung
  • Die erneute Demontage des Homosexuellen durch kritische Soziologen

Grundtenor des Ganzen ist das Infragestellen von getrennten Kategorien wie Homo-, Hetero- und Bisexualität, das ja auch bei uns auch schon immer wieder aufkam – durch L oder zuletzt gestern abend in F’s Gegensprechanlage(*) durch unsere Anruferin M. Besonders interessant wird dies bei Haeberle jedoch durch die historischen Zusammenhänge, die er herstellt, durch seine pointierte – teils sogar etwas barocke – sprachliche Ausformulierung und die Zitate von Ulrichs, Hirschfeld, Kinsey etc., die er anführt. Ein paar Beispiele:

In “Die Erfindung des Homosexuellen im 19. Jahrhundert” zitiert er Ulrichs (wenn auch nicht in der originalen Rechtschreibung von 1869):

“Zu allen allen Zeiten und unter allen Völkern erblickt der Beobachter des Menschengeschlechts Äußerungen einer geschlechtlichen Leidenschaft von Seiten männlich gebauter Individuen zu männlich gebauten Individuen … Da drängt sich ihm denn die Frage auf: ‘ist diese Erscheinung, die so abnorm zu sein scheint, natürliche, wahre geschlechtliche Liebe?’ Die Antwort scheint auf den ersten Blick nicht ganz leicht. Denn auf der einen Seite sagt ihm ein entschiedenes Bewußtsein, daß ein Mann einen Mann nicht lieben kann. ‘Also, so möchte er schließen, kann jene Erscheinung wahre natürlich Liebe nicht sein.’ Andererseits aber tragen all jene Äußerungen das Gepräge ungekünstelter wahrer geschlechtlicher Sehnsucht wirklich an sin. Scheinbar also eine unlösbare Verwicklung … Und doch ist die Lösung vorhanden. Alle Schwierigkeit schwindet, sobald man umgekehrt rückwärts schließt: ‘Jene auf Männer gerichtet Liebe ist offenbar wahre Geschlechtsliebe; ein Mann kann einen Mann nicht lieben: also kann der liebende Teil nicht wahrer Mann sein’.”

Haeberle schreibt weiter über Ulrichs’ Theorien: “Dieser ‘nicht wahre’, also ‘falsche’ Mann gehört zu einer besonderen Menschengruppe an, die man bisher als solche nicht erkannt oder übersehen hatte.” Dies führt dann bei Ulrichs zur Einführung der Urninge, die weibliche Wesen im männlichen Körper sind, bzw. der Urniginnen, also männlicher Wesen im weiblichen Körper. Haeberle schreibt weiter: “Leider konnte sich Ulrichs aber nicht lange seiner vermeintlich ebenso einfachen wie genialen Einsicht freuen, denn bald meldete sich die Realität recht störend zu Wort. Er erhielt eine große Anzahl von Briefen begeisterter Leser, die seinen Grundeinfall priesen, aber für sich selbst gewisse Ausnahmen, Abschwächungen oder Abweichungen konstatierten. Einige Männer […] Andere berichteten von ihrer andauernden Liebe zu beiden Geschlechtern, und wieder andere erzählten vom episodischen Wechsel ihrer gleich- und andersgeschlechtlichen Neigungen.” Und das alles in der zweiten Hälfte den 19. Jahrhunderts!

In “Die Abschaffung des Homosexuellen durch Kinsey” erfährt man Interessantes über die Bedeutung der Kinsey-Skala (was ich selbst auch erst von einer unserer “Neuen” – deren Name mir leider entfallen ist – am letzten Stammtisch erfahren habe): “Allerdings wurde sie leider auch oft falsch interpretiert, weil man sich nicht die Mühe machte, Kinseys eigene Erläuterungen nachzulesen. Er betonte nämlich ausdrücklich, daß seine Skala nicht nur tatsächlich ausgeführte Handlungen darstellte, sondern auch rein psychische Reaktionen einschloß, die gar nicht zu sexuellen Kontakten führten.”

In “Die Wiedergeburt des Homosexuellen in der modernen Schwulenbewegung” beginnt Haeberle: “Angesichts des nötigen ‘schwulen’ Befreiungskampfes schien Kinseys Abschaffung ‘des Homosexuellen’ wenig hilfreich, ja rückschrittlich, und so wurde dieser altmodisch gekleidete, zu statistischem Staub zerbröselte psychiatrische Golem im modischen ‘Castro Clone’-Kostüm als ‘der schwule Mann’ schleunigst neu erschaffen – ein zeitgemäßer, starker und gesunder Kämpfer für das Gute. Dazu stieß dann bald noch ‘die lesbische Frau’, und so wuchs eine neue gesellschaftliche Gruppe heran, die zur Durchführung ihrer Ziele eine eigenen Identität kultivierte.” Aber auch an der Bi-Bewegung wird Kritik geübt, da sie selbst ja durch die Einführung des Begriffes “Monosexualität” letztendlich dieselbe Dichotomisierung wie zuvor die Schwulenbewegung vornehme, um klare Fronten zu schaffen und sich selbst von den anderen zu unterscheiden. “Die Bisexuellen aber erscheinen nun, damit verglichen, als die eigentlichen vollgerundeten Persönlichkeiten, die einzig wahren ‘Vollmänner’ und ‘Vollweiber’ [Hirschfelds Terminologie]. (Dieser witzige terminologische Vorstoß war allerdings nicht völlig neu, da schon Hirschfelds Zeitgenosse Benedikt Friedländer die Nicht-Bisexuellen als ‘Kümmerlinge’ oder ‘Sittenkümmerlinge’ verspottet hatte.)”

“Die erneute Demontage des Homosexuellen durch kritische Soziologen” scheint bis heute weitgehend an der “schwul-lesbischen Bewegung” vorbeigegangen zu sein. Sollte nicht zumindest wir es “besser” machen? Sollte ich meine “Ja-Aber” zu L’s Thesen nicht doch überdenken? Viele interessante Fragen tun sich hier auf… Oder ist das alles kalter Kaffee und ich habe die Diskussion, die hierzulande geführt wurde, nur nicht mitbekommen?


Zitate aus bzw. nach: Erwin J. Haeberle/Rolf Gindorf (Hrsg.), Bisexualitäten: Ideologie und Praxis des Sexualkontakts mit beiden Geschlechtern, Gustav Fischer, Stuttgart Jena New York 1994

(*) PS für die Nicht-Münchner: Max & Milian ist Münchens schwuler Buchladen; die “Gegensprechanlage” ist eine Sendung auf Münchens Bürgerradio “Radio Lora”, in der es gestern abend eine Stunde lang um Bisexualität ging.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kernfusion
Identitti