Georgia On My Mind

Tante Gerta kam jedes Jahr für einige Wochen nach Deutschland. Immer Anfang März, um beim Geburtstag Ihrer Mutter am 16. März hier zu sein. Meine Urgroßmutter war schon immer Wochen vorher nervös und aufgregt, weil ihre Tochter aus Amerika zu Besuch kam. Und das alte Schlafzimmer direkt neben der Küche, noch aus den Zeiten vor der Hauserweiterung, wurde nur für Gerta als solches erhalten. Im Regal gleich hinter der Schlafzimmertüre befand sich hinter einem Stoffvorhang der Handvorrat an Zucker, Mehl und Selbst-Eingemachtem – insofern war mir dieses Zimmer wohl bekannt von den Bitten, doch mal ein Päckchen von diesem oder jenem in die Küche zu holen.

Für uns Kinder war der Besuch der Tante aus Amerika immer ein großes Ereignis. Sie brachte uns Unmengen an Süßigkeiten mit – Schokoriegel, Schokolade und die eine oder andere klebrige Zucker-Bombe. Sie brachte aber auch Leben in die Wohnung meiner Uroma im ersten Stock. Nicht dass es bei ihr langweilig gewesen wäre – oft und gern waren wir als Kinder einen Stock tiefer bei der Oma Heider. Entweder in der Küche, in der sie uns Marmeladenbrote schmierte – oder hinten in der “guten Stube mit dem durchgesessenen Sofa, den 50er-Jahre-Sesseln, dem Nierentisch, den Bildern ihrer Enkel – meines Vaters und meines Onkels – auf der Anrichte neben ihrem Lieblingsessel, dem sie selbst beim Sterben die Treue hielt. “Ich geh in kein Krankenhaus” waren ihre Worte, von denen sie bis zum Schluss nicht abwich.

In der Glasvitrine standen immer eine Kristallkaraffe und passende Likörgläser – die Karaffe gerade eben so hoch, dass sie als Stütze für die Glasplatte dienen konnte, auf denen die “guten” Weingläser aus geschliffenem Kristall standen. In der Vitrine war auch das Kaffee-Geschirr, ebenfalls im 50er-Jahre-Design, in pastelligem Hellblau und Rosa. Wenn Tante Gerta da war, wurde es ausnahmsweise sogar verwendet. Ich liebte dieses Geschirr.

Das Deutsch von Tante Gerta war schon in den 1970ern recht eingerostet und bestand aus einer Mischung aus Zirndorfer Dialekt und immer wieder eingestreuten englischen Worten – mit einer ausgeprägten Südstaaten-Färbung. Wahrscheinlich hat sie seit ihrer Auswanderung im Januar 1954 mit ihrem Mann – einem U.S.-Soldaten – und ihren danach in Georgia geborenen Kindern nur Englisch gesprochen. Aber sie war ausgesprochen lebensfroh und hatte immer ein Lächeln für uns, und wir freuten uns jedes Jahr aufs Neue auf sie.

Ab und an waren auch ihre Kinder mit dabei. Obwohl eigentlich die Generation meiner Eltern, fühlte es sich für mich eher wie ältere Cousins und Cousinen an. Die Kommunikation mit ihnen war damals extrem schwierig für uns: sie sprachen kein Deutsch – und unsere Versuche, uns mit unserem Schul-Englisch durchzuschlagen, scheiterten neben dem mangelnden Wortschatz an der damals für uns reichlich unverständlichen Aussprache unserer amerikanischen Verwandtschaft.

Nach dem Tod meiner Urgroßmutter 1985 endeten die jährlichen Besuche von Tante Gerta. Meine Vater hält immer noch losen Kontakt mit seinem Cousin, ab und an schreibt man sich und tauscht Familienbilder aus. So erfuhren wir auch von Gertas Tod 2017. Sie war 96 Jahre alt geworden – und auf den späten Bildern würde ich sie glatt mit meiner Oma Heider verwechseln.

Auf diesem Weg erfuhr ich auch von der Begeisterung meines Onkels 2. Grades für Trump. Mein Vater berichtete mir von seinen Versuchen, dem Argumente entgegen zu setzen. Die Antworten gaben uns einen kleinen Einblick ins Denken der vielen Menschen, die 2016 und auch wieder 2020 für Trump gestimmt hatten.

Als dann Georgia im November 2020 nach vielen Tagen Zitterpartie endgültig kippte, musste ich wieder an meine Verwandtschaft in diesem Bundesstaat denken – und freute mich. Ich freute mich riesig, dass Menschen vom Schlage meines Onkels einen Dämpfer bekommen haben. Und verspürte eine gewisse Genugtuung.

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