“Mein Kampf”

Michael Bittner bloggt seit einiger Zeit mehrteilig zu seiner Lesereise durch Hitlers „Mein Kampf“. Ich verfolge das mit Interesse, nicht zuletzt da es mich an meine eigene Auseinandersetzung mit diesem „Werk“ erinnert. Vor gut 30 Jahren hatte ich den starken Antrieb, selbst einmal zu lesen, was Herr H. aus B. denn da geschrieben hatte und den bayrischen Staat als Urheberrechtsinhaber dazu veranlasst hatte, jegliche Neuauflage – auch kritisch kommentierte – über Jahrzehnte hinweg zu verhindern.

Also lieh ich mir von einem Onkel die zweibändige Ausgabe, die seine Eltern in den 40er Jahren zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Er war etwas zögerlich, ob ich denn schon „reif“ genug dafür wäre, auch meine Eltern waren skeptisch, ob ich in die rechte Ecke abdriften könne. Aber nach einiger Überzeugungsarbeit bekam ich das Buch.

Mit großem Elan ging ich damals ans Werk – wurde aber ganz schnell von der bitteren Realität eingeholt. Abgesehen davon, dass der Text literarisch nicht besonders erbaulich war, hat es mir schon einiges an Durchhaltevermögen abverlangt: seitenweise Ergüsse von Selbstüberschätzung und -Überhöhung; eine schon sehr „eigenwillige“ Sicht auf Dinge, die wir heute als historisch gesicherte Erkenntnis wissen; übelster Rassismus und Antisemitismus; und nicht zuletzt eine Sicht auf „das Deutsche Volk“, die mir einfach nur wahnhaft vorkam. 

Je mehr ich las, desto weniger Verstand ich, wie jemand das, was das geschrieben stand, wirklich ernst meinen und ernst nehmen konnte. Und noch viel weniger konnte ich mir vorstellen, dass von diesem Buch heutzutage (also damals in den Vorwende-80ern) noch eine Gefahr ausgehen könne. Vielleicht noch ein paar unverbesserliche Alte, aber einem jungen Menschen, der in der modernden Bundesrepublik aufgewachsen ist, könne das doch nichts mehr anhaben.

Wenn ich jedoch heute PolitikerInnen darüber schwadronieren höre, den Begriff „völkisch“ wieder positiv zu besetzen; wenn Abgeordnete des Bundestages von „Umvolkung“ schreiben – und dafür nicht gleich hochkantig aus der Partei geworfen werden; wenn Ausländer als „Schmarotzer“ hingestellt werden; wenn über „Islamisierung“ gefaselt wird (wo bei mir unweigerlich die Assoziation zu „Verjudung“ da ist); wenn wieder höhere Geburtenraten im Namen der völkischen Doktrin propagiert werden; wenn Unsichtbarmachung und Unterdrückung von allem, was von der heterosexuellen „Norm“ abweicht, wieder als „Schutz unserer Kinder“ propagiert wird; wenn Menschen in ihrer eigenen Wohnung brutal zusammengeschlagen werden, nur weil ein in der Familie nicht den völkischen Wahnvorstellungen entspricht; ach, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen…

Jedenfalls zeigt mir das, wie naiv ich damals noch war. Und wie sehr die braune Gedankenwelt noch präsent ist; dass sie sich nur jahrzehntelang versteckt hat, aber nie verschwunden ist. Und ganz erschreckend: dass sie sich auch bei Menschen in meiner Generation oder gar noch jünger, wieder Fuß fassen und sich ausbreiten konnte. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kernfusion