“Doch meine Heimat ist ein Mosaik”

Heimat. Was ist das eigentlich? Was ist es für mich?

Lange habe ich diesen Begriff vermieden und es abgelehnt, mich nicht damit zu befassen, ja sogar das gesamte Konzept von Heimat als unwichtig oder gar verwerflich betrachtet. In letzter Zeit mehren sich jedoch die positiven Anregungen zu diesem Thema.

So in Melina Seilers kürzlich entdecktem Beitrag Was ich mal sagen wollte: Ich schließe endlich Frieden mit meiner Heimat, in dem vieles bei mir anklang – auch wenn meine konkrete Geschichte anders ist. Sie schreibt dort sehr treffend:

Heimat prägt. Heimat bleibt Heimat. Egal, wie sehr wir uns verändern. Egal, wie fremd sie uns wird. Egal, ob wir uns an einem anderen, neuen Ort so viel wohler fühlen. Ich werde die Erinnerungen an diesen Ort nicht auslöschen können.
Hier bin ich groß geworden. Hier habe ich viele prägende Erfahrungen gemacht. Hier war ich Kind und Teenager. Das wird für immer so blieben, egal, ob ich mit den Jahren viel mehr Zeit an einem anderen Ort verbracht haben werde. Egal, wie viele negative oder gute Erfahrungen ich hier gemacht habe.

Was ich mal sagen wollte: Ich schließe endlich Frieden mit meiner Heimat

In diesem Sinne ist Heimat der Ort, an dem ich aufgewachsen und groß geworden ist. In diesem Sinne weiß ich, was meine Heimat ist.

Aber dieses Verständnis von Heimat stellt mich nicht zufrieden. Diese Heimat ist Vergangenheit. Mir fehlt die Gegenwart. Und alles, was zwischen dem Jetzt und dieser Heimat liegt. Zeitlich und räumlich.

Eine weitere Anregung zum Thema Heimat fand ich in dem kürzlich erschienenen Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten von Alice Hasters.1 Das Buch ist in vielerlei Hinsicht sehr lesenswert – aber das soll hier nicht das Thema sein. Als sie über ihren Schulaufenthalt in Philadelphia schreibt, zitiert Alice Hasters aus Zähne zeigen von Zadie Smith:

»And then you begin to give up the very idea of belonging. Suddenly this thing, this belonging, it seems some long, dirty lie … and I begin to believe that birthplaces are accidents, that everything is an accident. But if you believe that, where do you go? What do you do? What does anything matter?«

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten. hanserblau, September 2019.

Um dann in eigenen Worten fortzufahren:

Zu wissen, wo man herkommt, ist ein Privileg. Es nicht andauernd erklären zu müssen, auch. Zugehörigkeit ist nicht gleich Herkunft. Zugehörigkeit ist ein Bedürfnis. Herkunft ist ein Schicksal. Trotzdem hoffen wir, das eine im anderen zu finden. Wenn beides zusammengeht, dann nennt man das wohl Heimat.
Heimat ist ein Konstrukt, eine Wunschvorstellung. Wir suchen sie zwar oft in unseren Nationalitäten, in unserer Rassifizierung, doch Heimat kann nicht verortet oder an Bedingungen geknüpft werden. Philadelphia war lange ein fremder Ort, den ich Heimat nannte, bevor ich jemals dort war. Schließlich war es meine Antwort auf: »Wo sind deine Wurzeln?« Das Problem ist, dass wir gewohnt sind, Heimat als eine einzige Sache zu begreifen. Als ob es nur eine wahre Heimat geben könnte. Deshalb suchte ich vergebens nach einem Ort, dem ich vollständig zugehörte, wo ich das Wort »fremd« endlich von mir abschütteln konnte. Doch meine Heimat ist ein Mosaik. 

Ebd.

Die beiden ersten Sätze machen mir sehr deutlich, wie privilegiert ich bin. Ich weiß, woher ich komme. Mich fragt niemand, wo meine Wurzeln lägen. Jede*r nimmt aufgrund meines Äußeren ganz automatisch an, dass ich in diesem Land geboren bin, ebenso meine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und die Generationen vor ihnen.

Trotzdem empfinde ich die Frage “Woher kommst Du?” inzwischen als unangenehm. Es zeigt sich meistens, dass damit nur erfragt werden sollte, wo ich wohne oder lebe. Und wenn sich aufgrund der Inkongruenz zwischen meiner Antwort “Aus Köln!” und meiner Ausprache des Deutschen ein Gespräch entwickelt, kann das manchmal ganz anregend sein und zum Entdecken von Gemeinsamkeiten führen.

Die Frage “Woher kommst Du?” führt bei mir aber fast jedesmal zu einer kleinen inneren Selbstbefragung: Was antworte ich? Habe ich Lust auf längere Erklärungen? Manchmal auch: Wie komme ich aus der Nummer wieder raus? Bei mir es meist nur ein kleines Unwohlsein. Denn bei mir kommt die Nachfrage “Wo sind Deine Wurzeln?” nicht. Niemals. Das Privileg des Weiß-Seins in diesem Land.

Diese Selbstbefragungen hängen auch mit meiner eigenen Vorstellung von Heimat zusammen, denn es gibt so viele Facetten davon: Da ist als erstes Nürnberg: die Stadt, in der ich geboren bin. Dort war ich nur wenige Tage in einem städtischen Krankenhaus – um dann nach Zirndorf zu kommen: der Kleinstadt, aus der mein Vater stammte, in der meine Eltern lebten – und nun auch ich für die nächsten 25 Jahre. Trotzdem blieb Nürnberg wichtig: Es war das Zentrum, nicht selten sprach man von “der Stadt” und meinte Nürnberg. Noch während des Studiums zog ich zu meinem erstem Lebensgefährten: nach Lauf, einer weiteren Kleinstadt direkt auf der anderen Seite von Nürnberg. Danach folgten 15 Jahre in München, erst Theresienhöhe, dann Moosach und die längste Zeit in Neuhausen. 2010 der Umzug nach Köln: nach gut vier Jahren in Nippes jetzt in Weiden am westlichen Stadtrand.

Jeder der Orte der Vergangenheit ist in irgendeiner Form Heimat gewesen. Sowohl räumlich – als auch emotional. An jedem dieser Orte habe ich mich für lange Zeit wohl und zuhause gefühlt, habe Menschen kennengelernt, die in meinem Leben wichtig wurden – und es teilweise noch sind. Zurück in eine der früheren Städte möchte ich trotzdem nicht mehr. Wenn ich heute durch München gehe, beschleicht mich zwar manchmal ein Anflug von Wehmut und es kommen nicht selten Erinnerungen an schöne Zeiten an diesen Orten wieder hoch. In Zirndorf oder Nürnberg ist mir die Optik der Stadt und der Klang der Sprache immer noch am vertrautesten. Aber es ist Vergangenheit.

Lange hat das eine Art innere Zerissenheit in mir erzeugt. Was ist denn nun meine Heimat? Wo will ich sein? Wo will ich bleiben? Bin ich hier in Köln wirklich richtig? Wo gehöre ich hin? Wo fühle ich mich zugehörig? Und ich habe die Menschen beneidet, die auf die Frage nach ihrer Heimat eine schnelle und eindeutige Antwort geben konnten. Oft waren das aber Menschen, die ihr ganzes Leben am gleichen Ort gelebt haben. Oder nach einem Intermezzo wieder an diesen einen Ort zurück gegangen sind. Dieses Bild von der einen, wahren Heimat – das mir vorherrschend zu sein scheint – hat das Gefühl der Zerissenheit immer wieder befeuert. Und mich an mir selbst zweifeln lassen.

Auf dieses Gefühl der Zerissenheit hat auch die Erstarkung von völkisch-nationalistischem Denken eingezahlt. Es wurde wieder lautstark das Bild der einen, wahren Heimat der Deutschen propagiert, die es zu verteidigen gälte, die nur durch Ausgrenzung und Abschottung vor dem moralischen Verfall und dem “großen Austausch” zu retten sei. Sogar ein Ministerium musste dafür her. Mit dieser Art von Heimat wollte und will ich nichts zu tun haben. Diese Art von Heimat ist tot und tödlich.

Alice Hasters Bild von Heimat als Mosaik hat mir einen entscheidenden Impuls gegeben: Ich muss Heimat nicht in einem Ort suchen. Ich fange an, die Idee zu umarmen, dass meine Heimat ein Mosaik ist. Ein Mosaik aus Orten, Zeiten, Menschen, aber auch Kultur, politischen Gegebenheiten, sozialem Umfeld – und Emotionen. Ein Mosaik, das noch nicht einmal vollständig gelegt ist.


Beitragsbild von Wikipedia-Nutzer Kreuzschnabel, lizensiert unter CC BY-SA 3.0

  1. Ein Interview mit ihr auf ze.tt.

Ein Gedanke zu „“Doch meine Heimat ist ein Mosaik”“

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